Ursprünge des Yoga & Yoga heute
URSPRÜNGE DES YOGA
Das Wort Yoga (योग) stammt von der Sanskrit Verbalwurzel yuj und bedeutet unter anderem anschirren, verbinden, einen, den Geist konzentrieren oder fixieren, in Meditation verbunden sein und zusammenbringen (yuj, 1899). Es ist eines der sechs klassischen Philosophiesysteme bzw. Weltanschauungen (darśana) Indiens. Die vermutlich frühste Yoga-Definition stammt aus der kaṭha upaniṣad, Kapitel 6 Vers 11 aus dem 3. Jahrhundert vor Christus, welcher von Olivelle (1998, S. 401) wie folgt übersetzt wurde: „Wenn die Sinne fest im Griff sind, das ist Yoga, so denken die Menschen. Von Ablenkungen ist der Mensch dann frei, denn Yoga ist sowohl das Werden als auch das Vergehen des Seins“.
Die bhagavadgītā aus dem 2. Jahrhundert definiert Yoga in Kapitel 2 Vers 48 und Vers 50. „Erfülle deine Pflicht gleichmütig, [...] indem du alle Anhaftung an Erfolg oder Misserfolg aufgibst. Solcher Gleichmut wird Yoga genannt [2.48]. Ein Mensch, der sich dem hingebungsvollen Dienst widmet, befreit sich sowohl von guten als auch von schlechten Reaktionen, sogar in diesem Leben. Deshalb strebe nach Yoga, welches die Kunst aller Arbeit ist [2.50]“ (Bhaktivedanta Swami Prabhupāda, 1972, S. 147 - 149). In diesem Text werden auch drei der fünf klassischen Yoga-Systeme genannt, welche alle zum Ziel der Erleuchtung führen sollen: karmayoga (Yoga der Handlung), jñanayoga (Yoga des Wissens) und bhaktiyoga (Yoga der Hingabe). Die berühmteste Definition findet sich im frühesten systematischen Yoga-Text, dem yogasūtra des patañjali, welches zusammen mit dem Kommentar (dem bhāṣya) das pātañjalayogaśāstra bildet. Dies kann laut Maas (2006) auf das 4.-5. Jahrhundert datiert werden. Dies definiert den vierten Yoga-Weg: rājayoga (der königliche Yoga). Im Kapitel 1 Vers 2 heißt es: „Yoga ist das Aufhören aller Bewegungen im Bewusstsein.“ In Kapitel 2 Vers 29 wird dann der achtgliedrige (aṣṭāṅga) Yoga nochmals genauer durch fünf äußere und drei innere Glieder definiert: „Moralische Anweisungen, festgelegte Regeln, Körperhaltung, Atemregulation, Hinwendung der Sinne auf ihren inneren Ursprung, Konzentration, Meditation und Versenkung des Bewusstseins in das Selbst sind die acht Glieder des Yoga“ (Iyengar & Lehner, 2010, S. 83 & 177). Zu guter Letzt ist noch der haṭhayoga als fünftes klassisches Yoga-System zu nennen, welches in verschiedenen Texten genannt wird und zu dem vorher eher meditativem Yoga, nun sehr detaillierte Beschreibungen für Körperhaltungen (āsana), Atemübungen (prāṇāyāma), Handstellungen (mudrā), die gezielte Anspannung von Muskeln (bandha) und der Versenkung bzw. Erleuchtung (samādhi) hinzugibt.
Prāṇāyāma (die Kontrolle bzw. Erweiterung des Atems) ist ein zentraler Teil der Yoga-Praxis, seit der frühsten Beschreibung von Yoga-Techniken, welche als Übung der Atemanhaltung bereits dem Buddha (siddhārtha gautama) bekannt waren und besonders im haṭhayoga Bedeutung finden. Heutzutage sind es besonders die physischen Aspekte, welche hervorgehoben werden. Im vormodernen Indien waren es allerdings jene Praktiken der Atem- und Meditationstechniken (Mallinson & Singleton, 2017). Dabei wird die Praxis der Atemveränderung in Indien oft mit tapas (asketischen Praktiken) in Verbindung gesetzt, im Westen werden diese oft weniger intensiv und mit mehr Fokus auf gesundheitlichen Aspekten, im Gegensatz zur Erleuchtung als Endziel, praktiziert. Traditionell gilt prāṇa als Lebensenergie, welche durch die gezielte Kontrolle bzw. Erweiterung (āyāma) praktiziert wird, um den energetischen Körper (prāṇamayakoṣa) mit seinen Energiebahnen (nāḍī) zu verstehen und zu kontrollieren. Dadurch sollen auch die anderen Körper (pañcakoṣā) in ein Gleichgewicht gebracht werden.
In Kapitel 2 Vers 44 der haṭhapradīpikā werden acht kumbhaka (Atemanhaltungen) genannt (Muktibodhananda, 2013). Diese Übungen werden sahitaprāṇāyāma genannt, wenn diese durch bewusste Anstrengung praktiziert werden. So wird prāṇāyāma aus der vorherigen reinen Atemanhaltung in ein von Atemtechniken (mit In- und Exhalation) begleitetes Atemanhalten verwandelt (Mallinson & Singleton, 2017). Die Atmung wird dabei allgemein in vier Kategorien unterteilt: Einatmung (pūraka), Einatmung mit Atemanhaltung (antarakumbhaka), Ausatmung (recaka) und Ausatmung mit Atemanhaltung (bāhyakumbhaka). Eine Atemübung, welche all diese vier Kategorien verbindet, ist samavṛtti, die gleichlange Bewegung (der Atmung), auch als Box- oder Kastenatmung bekannt. Prāṇāyāma, wie wir es heute kennen, wird erstmals in Kapitel 2 Vers 44 & 71 der haṭhapradīpikā, wie oben erläutert, beschrieben.
YOGA HEUTE
Im Jahr 2022 gibt es über 300 Millionen Yoga-Praktizierende, 36 Millionen (82,2% weiblich, 17,8% männlich) allein in den U.S.A., nahezu eine Verdoppelung innerhalb des letzten Jahrzehnts. Die Yoga-Industrie ist mit einem weltweiten Wert von über 88 Milliarden Dollar eine der am stärksten wachsenden Wirtschaftszweige mit einem geschätzten Wert von über 215 Milliarden Dollar im Jahr 2025 (Jeong, 2022). Auch in Deutschland ist eine steigende Tendenz zu sehen. Laut einer repräsentativen Studie des Berufsverbands der Yogalehrenden in Deutschland e.V. praktizierten im Jahr 2014 3% der Deutschen yoga, 2018 bereits 5%. Yoga ist besonders bei Personen mit höherer Schulbildung sowie unter Beamten und Angestellten beliebt und wurde 2018 von jeder vierten in Deutschland lebenden Person in Betracht gezogen (Yoga in Zahlen, 2018). Singleton (2010) beschreibt in seinem Buch Yoga Body die westlichen Einflüsse der Gymnastiksysteme des frühen 20. Jahrhundert auf das kolonisierte Indien, welche die Entwicklung des modernen yoga beeinflusste.
Das Postural Yoga der bekannten Yogameister und die Yogaphilosophie basierend auf indischen und nicht indischen Weltanschauungen wurden besonders in der westlichen Welt (in Deutschland erstmals ab den 1930er Jahren) von Esoterik, Körperkulturbewegung, New Age und verschiedenen Achtsamkeitsströmungen beeinflusst, sodass sich die Yoga-Praxis immer mehr auf erfahrungs- und alltagsorientiertes Erleben ausgerichtet hat. Durch fehlende Sanskrit-Kenntnisse und der dadurch entstehenden Abhängigkeit auf vorgefertigte Übersetzungen und einer soziohistorischen Loslösung des Kontextes erfährt beispielsweise nur das yogasūtra, abgekoppelt vom bhāṣya, große Bekanntheit (Ostrowski, 2022). Trotz dessen werden immer mehr private Anbieter für akademische Yogakurse (in Geschichte, Philosophie und Sanskrit) international wie Seth Powell mit yogic studies oder national wie Corinna Lhoir mit Yogastudien, bekannt.
Die Philosophie, wie die des yoga, welche große Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheiten einräumt, wird oft als Gegenbewegung zur fremdbestimmten, institutionalisierten Religion verstanden, welche keinen direkt erlebbaren Zugang, wie beispielsweise in einer körperzentrierten Yoga-Praxis, schafft. Dabei muss sich Yoga neben anderen Bewegungsformen wie Pilates behaupten, sodass sich dieser als Alleinstellungsmerkmal immer mehr auch als Lebensphilosophie positioniert (Ostrowski, 2022).
Ostrowski (2022, S. 420 - 424) führt weiter aus, dass Yoga:
eine psychosomatische, als holistisch wahrgenommene und innerweltliche Arbeit am Selbst [bietet] und evoziert einen spiritualisierten, verkörperten, ästhetischen Lebensstil [, sodass] in einer sich sehr schnell wandelnden Zeit [...] für manche ein anpassungsfähiges, dynamisches Weltanschauungssystem - das in vielfältiger Hinsicht zu einem Teil des Selbst geworden ist - lebensweltliche Orientierung bedeute[t, denn] es scheint aktuell kein gesellschaftlicher Träger für das zu existieren, was Yogaphilosophie bereitstellt - einen explorativen Raum der Selbsterkundung, den regelmäßigen und systematischen Austausch mit Gleichgesinnten über »Gott und die Welt«, die Reflexion über ethische und gesellschaftliche Dilemmata sowie über den Umgang mit den Schwierigkeiten des Alltags und die Entwicklung effektiver Selbsttechniken.
Die Forschungsgebiete der rezenten Yogaforschung können wie folgt untergliedert werden: 1. in die philologische Erschließung indischer Yogatexte [...], 2. in die historische Beforschung vormoderner und moderner Formen von Yoga und 3. in eine sozialwissenschaftlich-empirische Forschung über heutiges Yoga, die häufig auch religionswissenschaftlich informiert ist. (Ostrowski, 2022, S. 11).
Als Viertes ist noch die naturwissenschaftlich-gesundheitsorientierte ((bio)medizinische, neurowissenschaftliche, sportwissenschaftliche und psychologische Beforschung) des yoga zu nennen, welche vermutlich auch durch ein zunehmendes Interesse an Yoga-Therapie angetrieben wird. Ostrowski (2022, S. 17 & 18) nennt in Bezug auf die neurowissenschaftliche Beforschung „konzentrative, meditative und ethische Methoden“, sowie bei der neurowissenschaftlichen und psychologischen Beforschung den Bereich von „Bewusstsein und Achtsamkeit“. Aber auch die allgemeine medizinische Beforschung von prāṇāyāma und āsana, bzw. das komplette Yoga-System (Atmung, Körperhaltung und Meditation) bei Nacken- und Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen Zivilisationserkrankungen wird immer mehr von Forscher:innen aus dem Gesundheitsbereich, wie Holger Cramer, einem der führenden naturwissenschaftlich-gesundheitsorientierten Yoga-Forscher:innen, ausgefüllt.
De Michelis (2007) führte bereits vor 15 Jahren aus wie Postural Yoga seit des letzten Jahrhunderts von naturwissenschaftlicher Seite immer mehr erforscht wurde und diese sich gemeinsam mit anderen Inhalten wie die der Salutogenese als Mind-Body-Medicine etablierte. Hier ist besonders Andreas Michalsen als Experte zu nennen, welcher sich in seiner Arbeit auch mit yoga im gesundheitlichen Kontext beschäftigt. Prāṇāyāma und Meditation (dhyāna) sind dabei besonders im mentalen Bereich (Psychologie, Neurowissenschaften) angesiedelt, āsana wird hingegen oft eher bei physischen Beschwerden eingesetzt. Die Komplexität aus Atmung, Meditation und Bewegung erschwert eine gezielte Untersuchung nach einzelnen Wirkmechanismen. Prāṇāyāma wird dabei in Yoga-Stunden oder als eigenständige Praxis (beispielsweise in Atemworkshops), je nach Zielsetzung, unterrichtet. Yoga-Inhalte werden sowohl online live oder asynchron als Video wie auch offline in Kursen, Workshops, Retreats, Aus- und Weiterbildungen angeboten.